Hm, ich glaube tatsächlich, dass es nicht so einfach ist. Unabhängig davon, dass die meisten unserer Tiere sowohl eine Vorgeschichte haben (ohne uns), ein eigenes Leben haben (meistens ohne uns), Situtionen passieren können, in denen Grundvertrauen erschüttert wird (z.B. nach einer größeren Verletzung plus Behandlung) und wir eh nicht in einer idealen Welt leben, in der man im Training wirklich immer positiv bestärken kann...
Für ein Pferd, dass es gewohnt ist, etwas richtig zu machen, und dafür eine Bestätigung zu bekommen, Click, Keks, Aufmerksamkeit, kann schon allein das Ausbleiben eben dieser Bestätigung (z.B. weil wir abgelenkt sind oder an was anderem arbeiten wollen), eine Strafe sein. Das ist ja auch genau das, was wir uns zu Nutzen machen, wenn wir Verhalten shapen, die Annäherung an ein "Ziel" in erfolgreichen Schritten, bei denen im Lauf der Zeit ein immer weiter verfeinertes Kriterium verstärkt wird, und dafür ein weniger ausgefeiltes, eben nicht mehr. Wenn das nicht immer ein gewisses Frustpotenzial hätte, gäbe es nicht so viele Menschen und Tiere, die bei den ersten Schritten hängen bleiben. Denn Anforderungen steigern, selbst wenn es über positive Verstärkung und ihrer Kehrseite, der negativen Strafe erfolgt, ist immer mit einem kleinen bisschen Löschen, und auch seinen bekannten Nebeneffekten verbunden.
Oder die Fälle, in denen ein Verhalten zwar mit super Trainingsplan und fehlerfreiem Übungsaufbau wunderschön mit positiver Verstärkung aufgebaut wurde, aber leider an den wirklichen Bedürfnissen des Tieres vorbei? Was ist mit den Fällen, in denen das Tier über seine eigenen Grenzen geht, für die positive Verstärkung, denn es nicht zu tun, bedeutet, den Verstärker zu verlieren (da die Session beendet wird, oder der Trainer sich einem anderen Pferd zuwendet, oder es nur niederwertigeres Futter gibt, obwohl das Tier weiß, dass das Lieblingsfutter in der Tasche ist)? Was ist mit den vielen Fällen, wo es das "gute" Futter nur in Verbindung mit Training gibt (damit es auch wirklich ein Verstärker ist) und nicht am Training teilzunehmen bedeutet, die Chance zu verlieren, an das Futter zu kommen? Wie oft höre ich "aber wenn ich das Super-Futter frei zur Verfügung stehen würde, dann würden die Pferde a) fett und b) gar nicht mehr so motiviert mitmachen"...
Wir wissen zwar alle, dass zu verantwortungsvollem Clickertraining auch Pausen, Entspannung und Balance gehört. Aber so rein von der Definition her hat das erstmal wenig mit positiver Verstärkung zu tun, und man kann Tiere theoretisch sogar, über vorherige Deprivation (Entzug des Verstärkers) mittels positiver Verstärkung dazu bringen weit über ihre Grenzen hinaus zu gehen und sich selbst zu schaden.
Für mich bedeutet "wenn dem Mißerfolg keine Strafe folgt" theoretisch, dass das Pferd trotzdem Zugang zum Verstärker hat -> dann kann man evtl. davon sprechen, dass es wirklich frei ist, zu interagieren, und damit die Trainingssituation keinen Druck aufbaut.
Und dann bleibt noch die Frage, wie oft trainieren wir um des Trainierens willen, und nicht um ein Bedürnis des Tieres zu befriedigen? Wenn ein Pferd auf Signal mit einem Spielzeug spielt, wiederholt, für tolle Kekse, und es in der Sekunde in der wir die Kekstasche weglegen, den Gegenstand nicht mehr mit dem A*** anguckt - wieviel "Leistungsdruck" ist dabei im Spiel (aus Sicht des Pferdes)? Und wie ist es für das Tier, wenn wir an einer Übung "die halt sein muss" oder "einfach weil es wichtig ist" immer und immer und immer und immer und immer wieder trainieren, und es quasi für das "Nicht-Ausführen" eines Verhaltens zwar im Moment keine Strafe gibt, aber das Tier trotzdem immer wieder mit dem Training konfrontiert wird? Oder wenn wir zu lange trainieren, oder zu oft...
Ich glaube außerdem, es gibt tatsächlich sehr sensible Tiere (und das vererbt sich auch teilweise), für die schon die blose Tatsache, dass man sich mit ihnen beschäftigt, sehr viel Druck (oder Fokus, wenn man es lieber so nennen mag) ist. Und jedes einzelne gegebene Signal, egal ob es eine zigtausendfache Verstärkungshistorie hat, kann potenziell falsch verstanden oder falsch beantwortet werden, oder einfach wirklich nicht beantwortet werden, und das Wissen kann für Leistungsdruck sorgen.
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Ich habe versucht, es nicht zu sehr zum OT werden zu lassen, aber ich finde das Gespräch und den ganzen Thread sehr spannend, und glaube, hier können noch einige sehr interessante Gedankengänge zusammenkommen
Also, ich (für mich ganz persönlich) beschäftige mich einfach super viel mit der Frage, wie "positiv" das Training mit positiver Verstärkung überhaupt ist - und wie viele weitere Konzepte und individuelle Lern- und Bewältigungsstrategien noch dazu gehören, damit man von "risikoarmem" Training ausgehen kann
Weil wenn es so einfach und schwarz/weiß wäre, dann wäre der Behaviorismus auch in der menschlichen Psychologie nicht nur ein (elementar wichtiger) Ansatz wenn es um Lernen, Entscheidungen treffen etc. geht. Besonders interessant fände ich in diesem Zusammenhang z.B. auch, welche Auswirkung allein die Tatsache, dass der Mensch ein Signal gibt, schon darauf hat, wie das Tier reagiert. Gerade in der Sozialpsychologie gibt es ja viel Forschung darüber, was die Umgebung für einen Einfluss auf die Entscheidungen hat. Und diverse Gruppenphänomene spielen bestimmt auch eine Rolle im Training. Mein Lieblingling ist das Phänomen, bei dem eine Gruppe etwas gemeinsam tut, was kein einziger will, weil alle denken, dass die anderen es wollen
(Schreit bitte Stop wenn ich zu weit abdrifte
)